Grußwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde des Jüdischen Lehrhauses,
es ist uns eine große Freude, Sie zum 23. Semester seit Neugründung des Jüdischen Lehrhauses in Wiesbaden begrüßen zu dürfen. Unser Lehrhaus bietet eine einzigartige Gelegenheit, sich mit der Geschichte, der Tradition und dem tiefen Wissen des Judentums auseinanderzusetzen.
Eine jahrtausendealte Weisheit der Gelehrten besagt: „Der Scheuhafte lernt nicht, und der Strenge lehrt nicht“. Dies bedeutet, dass interaktives Lernen, so wie es auch im Jüdischen Lehrhaus Wiesbaden praktiziert wird, das Stellen und Beantworten von Fragen als Regel erachtet.
In diesem Sinne haben wir eine Reihe von Veranstaltungen für Sie zusammengestellt, die sowohl Wissen vermitteln als auch zum Nachdenken anregen sollen.
Besonders empfehlen möchten wir den Vortrag von Hartmut Boger zum 100. Todestag von Franz Kafka, in dem Kafkas Glauben und Humor anhand seiner Kurzgeschichten, Aphorismen und Aufzeichnungen dialogisch interpretiert werden.
Eine Führung über den Friedhof „Schöne Aussicht“ gibt Einblicke in die Geschichte des ältesten jüdischen Friedhofs in Wiesbaden, ein Kulturdenkmal, das trotz schleichenden Verfalls ein bedeutendes Zeugnis jüdischen Lebens in der Region ist.
Wir freuen uns auch sehr auf die Lesung mit Louise Brown aus ihrem Buch „Was bleibt, wenn wir sterben“. In eindrucksvoller und berührender Weise schildert sie ihren persönlichen Werdegang und ihre Erlebnisse als Trauernde und Trauerrednerin. Eine anschließende Podiumsdiskussion mit Vertretern der jüdischen, christlichen und muslimischen Gemeinden wird die Trauerrituale beleuchten.
In der Reihe „Juden unter dem Halbmond“ mit Oliver Glatz widmen wir uns in diesem Semester der Geschichte der Juden im Libanon.
Lesung und Gespräch „Und vor allem Köpfe, jüdische Köpfe“ mit Susanne Pfankuch bieten Porträts jüdischer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und zeichnen ein lebendiges Bild ihrer Schicksale.
Wir sind auch gespannt auf den Vortrag und die Lesung zu Curt Bloch und seinem Unterwasser-Kabarett. Thilo von Debschitz und Simone Bloch, die aus New York zugeschaltet sein wird, werden uns Blochs kreative Werke näherbringen, die während der NS-Zeit im Widerstand entstanden.
Für die Freunde des Tanzes bietet Colin Glogauer einen Kurs für israelische Tänze an, in dem traditionelle und moderne Volkstänze aus Israel erlernt werden können.
Unsere kulinarisch Interessierten laden wir herzlich zu den Workshops des jüdischen Kochens ein, geleitet von Anat Kozlov.
Der Feldenkrais-Kurs mit Karoline Röhr bietet eine Einführung in diese einzigartige Methode zur Verbesserung der Körperwahrnehmung.
Für Sprachinteressierte empfehlen wir die Hebräischkurse an der Volkshochschule Wiesbaden, geleitet von Nira Scherer.
Der Talmud berichtet, dass Rabbi Akiba ben Josef bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr völlig ungebildet war. Als Hirte im Dienst seines späteren Schwiegervaters קלבא שבוע (Kalba Savua – aus dem Aramäischen übersetzt: „Satter Hund“) lernte er seine Frau Rachel kennen. Sie verlangte von ihm, Lesen und Schreiben zu lernen. Gemeinsam mit seinem kleinen Sohn saß er in der Schule und lernte, ohne sich zu schämen. Dreizehn Jahre später war er selbst ein Tora-Gelehrter geworden. Der Name Akiba leitet sich vom hebräischen Wort עקב (eqev) ab, was mit „Alternative“ wiedergegeben werden kann.
Wir hoffen, dass unser Programm auch in diesem Jahr Ihre Neugier weckt und Sie inspiriert, sich auf neue Lernwege zu begeben.
Dr. Jacob Gutmark
Dezernent für Kultur der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden
Steve Landau
Leiter des Jüdischen Lehrhauses
Kontaktdaten
Jüdische Gemeinde Wiesbaden
Friedrichstraße 31–33
65185 Wiesbaden
Telefon: 0611–93 33 030
Fax: 0611–93 33 03 19
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Mit Förderung durch das Kulturamt der Landeshauptstadt Wiesbaden.
Geschichte des Jüdischen Lehrhauses Wiesbaden (Kurzfassung)
Franz Rosenzweig (geb. 1886 in Kassel – gest. 1929 in Frankfurt am Main) eröffnete 1920 in Frankfurt am Main das „Freie Jüdische Lehrhaus“. An dieser Bildungseinrichtung für Erwachsene, deren Dependance in Wiesbaden eröffnete, wurde der Grundsatz verfolgt: „Das Lehrhaus soll uns lehren, warum und wozu wir sind.“ Das Jüdische Lehrhaus hatte außerdem das Ziel, traditionelles jüdisches Wissen zu vermitteln und eine handlungsorientierte Wissenspraxis zu fördern.
Eine besondere Bedeutung kam der Begegnung zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der Mehrheitsgesellschaft zu. Diese Begegnung sollte weder eine Mission noch die Aufgabe der eigenen Identität bedeuten, sondern eine „Ich-Du-Beziehung“, wie Buber sie bezeichnete, also eine dauerhafte Partnerschaft auf Augenhöhe sein. Rosenzweig strebte an, jüdisches Wissen und jüdische Werte auch in die nichtjüdische Umgebung zu tragen und somit eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen.
Zentral war dabei das Konzept des „lebensbegleitenden Lernens“. Das Lehrhaus verstand Bildung als einen kontinuierlichen Prozess, bei dem Tradition und Moderne aufeinandertreffen und sich gegenseitig befruchten sollten. Es sollte ein Ort sein, an dem ein lebendiger Austausch von Ideen und ein offener Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Überzeugungen stattfinden konnten.
Das pädagogische Modell von Franz Rosenzweig wurde bis zur Schließung im Jahr 1938 durch die Nationalsozialisten von dem Religionsphilosophen Martin Buber, dem Psychologen Erich Fromm, dem Pädagogen Ernst Simon und dem Arzt Richard Koch weitergetragen. Trotz des abrupten Endes des Lehrhauses setzten sie das pädagogische Erbe von Rosenzweig fort und ließen seine Ideen in ihren eigenen Werken und Aktivitäten weiterleben.
Das Jüdische Lehrhaus Wiesbaden wurde im Mai 2013 wiedergegründet und setzt die Tradition des Frankfurter Hauses fort.